Es beginnt mit dem Öffnen von Rotweinflaschen und dem Eingießen in Gläser, jeder stellt sich kurz vor und dann prosten wir uns zu. Sami Bill stellt das Material des Workshops vor: diverse
Kochzutaten, Kochplatten, Kochutensilien, eine Kamera zum Aufnehmen und eine Weckeruhr. Es gibt zwei Optionen: Die sich nunmehr zu findende Gruppe kann wählen, ob sie eine Henkersmahlzeit
vorbereitet oder das Gelage aus Shakespeares STURM nachstellt. Dafür gibt es die entsprechende Textszene. Sami Bill erklärt, dass immer in 10-Minuten-Phasen gearbeitet wird, nach diesen 10
Minuten klingelt der Wecker und für genau 5 Minuten wird der Prozess unterbrochen und es findet eine gemeinsame Reflexion statt darüber, was in den vergangenen 10 Minuten stattgefunden hat. Er
wird gelegentlich Fragen an die Gruppe stellen. Danach wird wieder für 10 Minuten gearbeitet, dann wiederum für 5 Minuten die Arbeit für die Reflexion unterbrochen und so weiter. In den 10
Minuten der Arbeitsphasen soll jeweils einer die Kamera nehmen und insgesamt in einer Minute diese 10-Minuten-Phase festhalten. Thema für die Kameraaufzeichnung ist "Der kollektive
Entstehungsprozess" – dafür sollen Bilder und Sequenzen aufgenommen werden. Und dann sagt er: Jetzt geht es los – und stellt den Wecker. Zunächst herrscht Ratlosigkeit. Was tun? Was war noch mal
das Thema? Henkersmahlzeit oder STURM-Gelage? Wir drucksen herum. Jeder überlässt dem anderen den ersten Schritt. Texte werden in die Hand genommen und wieder weggelegt. Es kommt weder zu einer
Diskussion noch zu einer Entscheidung. Bis auf einmal eine Teilnehmerin sagt: Also ich mache jetzt Eierkuchen. Ruckzuck ist Mehl in der Schüssel und die einzigen vier Eier sind schon
aufgeschlagen in einer anderen. Jetzt wird gebremst: Moment, willst du etwa alle Eier für die Eierkucken verbrauchen?
Und was ist, wenn jemand Rührei machen wollte oder Omelett? Jetzt beginnt ein vages Sortieren, Systematisieren, wer geht an die Kamera, was machen wir, für welches Thema entscheiden wir uns – es wird die Henkersmahlzeit, da kann das Gelage ja enthalten sein. Aber – während es die Praktiker schon wieder in den Händen juckt und sie rühren, schneiden, zerkleinern, hacken wollen, fragen die Dramaturgen nach dem Konzept: Wird es ein Mehr-Gänge-Menü? Sollen wir aufteilen, wer was macht? Kochen wir eine Lieblingsspeise von uns selbst oder eine angenommene für jemand anders? Wollen wir die Speisen festlegen? Wir kommen nicht weit. Die Praktiker leisten Widerstand. Was ist denn jetzt, können wir endlich anfangen und einfach etwas tun, muss denn immer alles zerredet werden, kann man nicht einfach mal die Initiative ergreifen und das Entstehen dem Prozess überlassen, muss denn immer alles vorgedacht werden? Die Dramaturgen sind ein bisschen angepisst.
Dann auf einmal, wie als ob es den ganzen etwa 7-minütigen Vorlauf nicht gegeben hätte, nimmt sich jeder ein Gerät und ein Lebensmittel und beginnt etwas. Grüppchen bilden sich, erste
Handgriffe werden getan. Kurze Zeit darauf klingelt zum ersten Mal der Wecker. Irgendetwas fällt von mir ab und ich merke, dass ich soeben doch eine Rolle gespielt habe. Das ist komisch. Jetzt
schaue ich auf die Situation, die gerade stattgefunden hat. Oder bringt mich das Daraufschauen dazu, mich davor in einer Rolle gesehen zu haben? Wie beim Beschreiben einer eben stattgefundenen
Szene auf einer Probe reflektiere und beschreibe ich die Vorgänge. Zum Teil für mich im Kopf, zum Teil nach außen für die anderen. Das ist interessant. Weil man weiß, dass es für diesen
Prozess nur 5 Minuten gibt, sagt man nicht alles, tippt nur an. Aber das Nichtgesagte bleibt für die nächste Arbeitsphase präsent. Die Kollegin, die einfach loslegen wollte, setzt sich unter
Rechtfertigungsdruck, auch weil sie für ihr Vorgehen im Alleingang stark kritisiert wurde, da es die Gruppe völlig ausschloss und nur ihrem Sinnen und Trachten folgte. Damit habe sie einen
kollektiven Prozess verunmöglicht und ein jeder schwimme jetzt so ein bisschen unkoordiniert vor sich her. Wieder und wieder wechseln sich Arbeits- und Reflexionsphasen ab. Es entstehen
unterschiedliche Arbeitsgruppen: die, die mit dem Kochen und Anrichten beschäftigt sind; die, die sich um die Tafel und eine Tafelzeremonie kümmern; und die Filmgruppe, sie dokumentiert nicht
nur den Koch- und Tafelprozess, sondern dreht auch einen eigenen Film. Nicht jeder ist über alle gleichzeitigen Abläufe und Aufgabenbereiche im Bilde. Nachdem ein paar Konstellationen
ausprobiert wurden, haben sich die Gruppen personell fixiert. Überläufer sind selten geworden. Das anfangs Unsortierte hat sich sortiert, jeder ist mit einer / seiner Aufgabe beschäftigt, die
Gruppenfindung ist abgeschlossen, jetzt geht es komplett um die Erfüllung der Aufgabe, um die Erfüllung des Gegenstandes. Wir arbeiten auf ein Ergebnis hin und glauben, unendlich viel Zeit zu
haben. Die Aussicht auf das Ende bringt diesen Prozess des eingeschliffenen Arbeitens, jeder auf seinem Platze, noch einmal durcheinander. Nicht ins Wanken, aber die Aussicht auf das Ende
beschleunigt. Noch mal werden Grundsatzfragen aufgeworfen: Soll es eine Zeremonie geben, wie soll sie aussehen, wie bringen wir alles zusammen, wer bringt was zusammen, wer geht vorneweg, wer
geht einfach mit? Im Zumarsch auf das Ergebnis, das Ende werden diese Dinge wieder Gegenstand der Auseinandersetzung, ohne dass sie eindeutig beantwortet werden, es gibt keine ausgesprochene und
übernommene Führung, kein Zentrum, das meint, für alle die Richtung vorzugeben. Ohne dieses Zentrum wollen Entscheidungen nicht allein durchgesetzt werden, sondern durch das Kollektiv
bestätigt werden, aber das Kollektiv verhält sich nicht als solches. Also ist es keins. Es ist eine Zwangsgemeinschaft ohne gemeinsame Verantwortung. Allein die Struktur des 10-minütigen
Arbeitens und 5-minütigen Unterbrechens für die Reflexion lässt das überdeutlich hervorkommen. Was für ein Spiegel. Wie viel Raum für Interpretation und Ausdeutung.
Vier Monate später sitzt der Eindruck dieses Workshoperlebnisses immer noch tief. Er ist an die unumstößliche erste Stelle einer nicht geschriebenen Rankingliste gerückt. Was hat ihn so
besondern gemacht? Es ist das Spiel zwischen permanentem Tun und gleichzeitiger Reflexion, das die Prozesshaftigkeit eines Vorgangs tatsächlich in den Bereich des Erlebbaren, des Erlebten
gebracht hat. Ein unglaublicher Vorgang. Eine unglaubliche Erfahrung. Die Spaltung von zwei sich komplett konträr gegenüberstehenden Arbeitsweisen, die trotzdem gleichzeitig ineinander
aufgehoben sind, sich anspornen und vorantreiben. Sie brauchen sich einander und kommen ohne einander nicht aus: das eigene Tun und seine Reflexion.